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.Bernardo CarvalhoDreihundert BrückenRomanAus dem brasilianischen Portugiesischvon Karin von Schweder-SchreinerLuchterhandDie Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel O filho da mãebei Editora Schwarcz Ltda., Companhia das Letras, São Paulo.Die Übersetzung wurde gefördert durch das BrasilianischeMinisterium für Kultur / Fundação Biblioteca Nacional.Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil /Fundação Biblioteca Nacional.1.AuflageCopyright © der Originalausgabe 2009 Bernardo CarvalhoCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013Luchterhand Literaturverlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-04139-7www.luchterhand-literaturverlag.deBitte besuchen Sie auch unseren LiteraturBlogwww.transatlantik.deFür HenriqueInhaltI.Dreihundert Jahre1.St.Petersburg, am Vorabend derDreihundertjahrfeier (April 2003)2.Ein Jahr zuvor, in einem Flüchtlingslagerin Inguschetien3.Drei Wochen später,in St.Petersburg4.Zwanzig Tage später5.Zwei Abende später6.Zehn Tage später7.Eine Stunde später8.Halb acht Uhr abends9.Freitag, Mittagszeit10.SonntagII.Die Chimären11.Zweieinhalb Monate später,Rückkehr aus den Sommerferien12.Morgens13.Siebzehn Stunden später undsieben Zeitzonen voraus in Wladiwostok14.Die folgenden Nächte inSt.Petersburg (während Olga im Zugvon Wladiwostok nach Moskau reist)15.In Moskau16.Im Japanischen Meer17.Vor der Schule, St.Petersburg18.Zwei Tage später19.Über dem Oiapoque20.Abend, St.Petersburg21.Zehn Tage später,auf dem Weg nach Pulkowo22.Sechs Monate späterIII.Epilog23.Zehn Tage zuvorDanksagungI.Dreihundert Jahre1.St.Petersburg, am Vorabend derDreihundertjahrfeier (April 2003)Ich kann keine Kinder bekommen.Ich habe mehr als zwanzig Jahre gewartet, um es auszusprechen, damit ich nichts erklären muss.Ich habe gewartet, bis die Frauen unserer Generation das Alter erreicht haben, in dem sie keine Kinder mehr bekommen können.«»Aber weswegen bist du dann hier?«Die beiden Frauen sitzen in einem Café in der Rubinstein-Straße.Fast vierzig Jahre haben sie sich nicht gesehen.Sie sind zusammen zur Schule gegangen.Sie haben sich von der Überraschung ihres zufälligen Wiedersehens noch nicht erholt, auch wenn sie in der Schule nicht sehr eng befreundet waren.Am frühen Nachmittag hat Julia Stepanowa nach dem Arzttermin die Gelegenheit für einen Besuch der Kusnetschny-Markthalle genutzt – zur Erinnerung daran, dass die Mutter sie als Kind immer mitnahm, um dort Gemüse und smetana einzukaufen – und dann das getan, was sie sich vor einigen Tagen vorgenommen hat, als sie das Untersuchungsergebnis erfuhr.Zur Arbeit brauchte sie nicht zurückzukehren.Inzwischen kennt sie sich in dieser Gegend der Stadt kaum mehr aus.Nur selten kommt sie hierher.Bei Dr.Juravliov ist sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gewesen.Nun muss sie entscheiden, ob sie wieder mit den Sitzungen anfangen und alles noch einmal durchmachen will.Die Umgebung hat sich verändert – oder ist noch im Umbruch, wo Baustellen für die letzten Verschönerungen sorgen.»Die Stadt wird neu auferstehen«, verkündet ein Plakat an einem Art-déco-Gebäude, einer typischen Phantasmagorie vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, häufig wiederkehrendes Szenario ihrer Alpträume in der Kindheit.In den Straßen sind mehr Polizisten unterwegs, wegen der Attentate, aber vor allem wegen des Massakers im Moskauer Theater in der Dubrowskaja-Straße im Oktober des vergangenen Jahres.Nachdem sie die Markthalle mit einem Schälchen saurer Sahne und einer Tüte Obst verlassen hat, ist sie drei Häuserblocks weiter bis zur Rasjesschaja-Straße gegangen und vor dem schäbigen Eingang eines trotz der Vorbereitungen für die Dreihundertjahrfeier heruntergekommenen Gebäudes stehen geblieben.Sie hatte die Stimme des Arztes noch im Ohr: »Vor zwanzig Jahren haben wir ein für eine kinderlose Frau Ihres Alters radikales Verfahren gewählt, weil wir kein Risiko eingehen wollten.Und wir haben Ihnen damit zwanzig Jahre Lebensqualität beschert.Jetzt haben wir ein neues Problem, verstehen Sie? Ich kann Ihnen keine Hoffnungen machen.Die Entscheidung, was wir tun, liegt bei Ihnen.« Bei diesen Worten hat Julia zum ersten Mal das Bedürfnis verspürt, ein Leben zu retten, bevor sie stirbt.Zur Vergewisserung warf sie einen Blick auf das Schild neben dem verwahrlosten Eingang: Komitee der Soldatenmütter St.Petersburg.Sie stieg die erste Treppe hinauf.Stimmengewirr hallte durch den düsteren Flur.Mütter und Söhne drängten sich vor einer Tür am Flurende, zwei Frauen, die eine klein, die andere lang und hager, kümmerten sich um die rund fünfzehn Personen in der Schlange.Sie hörten sich jeden einzelnen Fall an, beantworteten Fragen und prüften Unterlagen.Julia wandte sich an die Kleinere.Doch kaum hatte sie den Mund aufgemacht, wurde sie von einer keifenden Frau unterbrochen, deren Gesicht sie im Halbdunkel zwischen den anderen nicht ausmachen konnte.Es kam ihr so vor, als redeten alle gleichzeitig.»Sie müssen warten, so wie alle anderen auch! Vordrängeln nützt nichts.Sie sind nicht die Einzige, für die es um Leben und Tod geht.«Beschämt stellte sie sich ans Ende der Schlange.Als hätte man sie auf frischer Tat ertappt.Es konnte doch nicht sein, dass ihr der Tod schon ins Gesicht geschrieben stand.Noch hatte sie sich nicht abgewöhnt, sich des baldigen Todes zu schämen, und fürchtete, man könnte ihn ihr ansehen.Sie wartete wie alle anderen.Es ging nur langsam voran.Schließlich kam die kleinere Frau zu ihr und fragte: »Geht es um Ihren Sohn?«Dieselbe Frage sollte sie bis zum Tagesende insgesamt fünfmal hören, allein dreimal, während sie im Flur wartete und sich mit ihren Schicksalsgenossinnen unterhielt.Zwei Stunden musste sie anstehen, bis sie den Raum mit den hohen, rußigen Fenstern betreten durfte.Die beiden jungen Männer, die in der Schlange vor ihr gestanden hatten, waren noch nicht herausgekommen, als die größere Frau gereizt auf die Tür deutete.»Sie sind dran.«Julia trat ein und schloss umständlich die Tür hinter sich.Die beiden jungen Männer hörten mit entsetzten Mienen zu, was ihnen eine energische, dicke rotblonde Frau in gemustertem Pullover und schwarzer Jerseyhose über ihre Rechte als Soldaten zu erklären versuchte.Julia setzte sich auf eine Bank an der hinteren Wand, unter die Urkunden mit Auszeichnungen, die internationale Menschenrechtsorganisationen den Soldatenmüttern verliehen hatten.Sie wartete darauf, dass die Frau mit den jungen Männern fertig wurde.Plötzlich erregten das Gesicht und die Stimme der dicken Rotblonden ihre Aufmerksamkeit.Und sie erkannte sie.Marina Bondarewa, ihre Schulkameradin, war so vertieft in ihre Ausführungen, dass sie nicht aufgemerkt hatte, als Julia hereinkam.Und erst als sie den jungen Männern zwei Broschüren überreichte und kurz aufblickte, nahm sie die blasse Person mit dem glatten braunen Haar wahr, die hinten im Raum unter den Urkunden auf der Bank saß und schweigend wartete, erkannte sie aber nicht
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