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.Sie war seither kaum gewachsen, nur ein bisschen in die Breite.Die pausbäckigen Wangen wirkten bleich.»Vera …«, stammelte sie, »ist es wahr?«»Ja.Gestern ist sie gestorben.«Bernie schniefte.Veras Blick fiel auf das Bett ihrer Schwester.Auf dem Kissen thronte Fritzi, Isas Lieblingsplüschtier, ein flauschiger Esel mit langen Schlackerbeinen.»Wusstest du, dass sie magersüchtig war?«, fragte Vera nach einer Weile.»Magersüchtig?« Das Mädchen nahm den Haarreif ab und schüttelte die dunkle Mähne.»Sie hat in letzter Zeit total wenig gegessen, das schon.Ich hab versucht, es ihr auszureden, aber sie wollte nichts davon wissen.«»Weißt du, warum sie gehungert hat?«Bernie sah Vera mit großen Augen an.»Na, weil sie nicht mehr moppelig aussehen wollte.« Sie sah an sich herunter.»Sie wollte keine fette Kuh werden wie ich«, murmelte sie.»Ich hab sie bewundert, weil sie es geschafft hat.«»Aber sie sah doch schon lange nicht mehr moppelig aus.Warum hat sie nicht aufgehört?«»Keine Ahnung.«»Ich dachte, ihr wart Freundinnen.Isa hat zwei Jahre mit dir zusammengewohnt, ist in deine Klasse gegangen, hat sich dem Klavier verschrieben.Wie du.«»Schon.« Bernie kratzte sich am Kinn und erwischte einen Pickel, der zu bluten begann.»Bestimmt habt ihr irgendwann darüber gesprochen.«»Nicht so richtig.«Vera suchte Bernies Blick, aber sie wich aus.»Es wäre sehr wichtig für mich.Das verstehst du doch, oder?«»Sie hat mal gesagt, sie hört erst mit dem Abnehmen auf, wenn ihre doofen Kamelhöcker verschwunden sind.« Sie deutete auf ihre Brüste.»Dabei war da kaum was, bei Isa.«Vera erstarrte.Was bedeutete das? Dass Isa sich geweigert hatte, eine Frau zu werden?»Hatte sie eigentlich einen Freund?«, fragte Vera so beiläufig wie möglich.»War sie verliebt?«Röte zog über die Wangen des Mädchens.»Weiß nicht.Mir hat sie es nicht erzählt, ehrlich nicht.« Sie drehte ihren Kopf weg und starrte aus dem Fenster.Wut kroch in Vera hoch.Sie musste sich zusammennehmen, um die Kleine nicht zu schütteln.Du lügst.Du verschweigst was.»Ich muss jetzt zur Schule.« Bernie stand auf, steckte das Buch und die Stifte in den Rucksack und ging zur Tür.»Vielleicht kann Sarah dir weiterhelfen.Sie war viel mit Isa zusammen.«»Warte!«Bernie hielt inne, die Türklinke in der Hand.»Ich werde Isas Sachen mitnehmen.Möchtest du etwas haben? Als Andenken?«Das Mädchen überlegte.Dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf.Sie schielte zu dem Esel auf Isas Bett.»Fritzi vielleicht?«Vera wunderte sich.Sie hatte mit sechzehn alles Mögliche im Kopf gehabt, Ausgehen, Abtanzen, Jungs, den ersten Joint.Bestimmt keine Plüschtiere.»Okay.«»Danke, Vera.Mach’s gut.« Bernie öffnete die Tür.»Warte!«Mit gehobenen Brauen sah sie Vera an.»Du bist keine fette Kuh, hörst du? Versprich mir, dass du niemals so eine Diät machst wie meine Schwester.«Bernie nickte.Als sie gegangen war, legte Vera Isas Kleider zusammen und packte sie in einen Koffer.Die Schulsachen, Bücher und anderen Habseligkeiten füllten einen zweiten.Sarah, die Geigerin.Ich muss mit ihr reden.Und hoffen, dass sie gesprächiger ist als Bernie.ZWEIHamburg-OhlsdorfAm Tag der Beerdigung drückte der Himmel bleigrau auf die alten Linden des Ohlsdorfer Friedhofs.Windböen zerrten an den Schleifen der Kränze, und von einem Nachbargrab verströmten verrottende Begonien ihr süßliches Parfum, das Vera an den Geruch im Seziersaal erinnerte.Die Hanfseile ächzten, als Isabels Sarg in die Grube gelassen wurde.Als ob er zentnerschwer wäre.Dabei ist nur ein Häufchen Haut und Knochen darin.Die Obduktion hatte Dr.Eberharters Vermutungen bestätigt.Ein Herzfehler, an sich harmlos.Aber in Kombination mit Isas geschwächter Konstitution und der übermäßigen Anstrengung hatte er zum Tod geführt.Schon einen Tag nach Isas Tod wurde ihr Leichnam freigegeben.Ein Hamburger Bestattungsinstitut schickte einen Leichenwagen nach Innsbruck.Der Fahrer holte Isa in der Pathologie ab und überführte sie nach Hamburg.Vera hatte er gleich mitgenommen.Nun stützte sie ihre Mutter, die gebeugt ging, als wäre sie innerhalb der letzten Tage um Jahre gealtert.Mutter bückte sich.Sie warf eine Schaufel voll Erde auf den Sarg.Der Aufprall der Erdklumpen auf dem Fichtenholz klang endgültig und unwiderruflich wie ein Hammerschlag.Der Reihe nach defilierten die Trauergäste zum Grab, nahmen die Schaufel und taten es Mutter nach.Das dumpfe Prasseln schlug den Nachfolgenden den Takt.Vater stand abseits.Er nahm die Kondolenzbekundungen entgegen.Seine Hand kroch automatisch vor, fiel in die Hand des Gegenübers und ließ sich schütteln.Seine Lippen murmelten Dank, doch die Augen starrten ins Leere.Während der Schmerz Mutter wie Falten ins Gesicht geschrieben war, trug Vater ihn in seinem Innersten verschlossen.Für Vater würde es am schwersten werden.Den Schluss des Trauerzugs bildeten vier von Isas ehemaligen Hamburger Mitschülerinnen.Jede ließ eine weiße Rose ins Grab fallen.Isa hatte weiße Rosen geliebt.Bei ihrem ersten öffentlichen Klavierabend hatte sie ein cremefarbenes Kleid mit Puffärmeln und aufgenähten Seidenrosen getragen.Damals war sie vierzehn und übte bereits fünf Stunden täglich Klavier, neben der Schule.Ihr Herz schlug für Chopin und Rachmaninow, ihre Pupillen waren Notenköpfe.Das Konzert wurde ein Riesenerfolg, Kritiker sprachen vom »Triumphzug eines Wunderkinds«.Danach weigerte sich die Klavierlehrerin, Isa weiter zu unterrichten.Sie könne ihr nichts mehr beibringen.Ein derartiges Talent müsse unbedingt bei einem großen Klavierpädagogen studieren, am besten beim allergrößten, Professor Sergej Sofronsky, der in Innsbruck die Elite der Nachwuchspianisten ausbilde.Isa platzte fast vor Begeisterung, obwohl es bedeutete, dass sie die Schule wechseln und Familie und Freunde in Hamburg zurücklassen musste.Nur Vater hatte Bedenken geäußert.»Bestimmt gibt es in Hamburg auch einen guten Lehrer für Isabel.Sie ist doch noch ein Kind.Wie kann sie ganz allein in dieser fremden Stadt wohnen, neunhundert Kilometer von uns entfernt? Sie wird Heimweh haben und verloren sein und …«Vera wurde von Horntönen aus ihren Gedanken gerissen.Ein Freund ihrer Eltern hatte sich vor das offene Grab gestellt und blies eine Choralmelodie, die ursprünglich traurig sein sollte.Da der Hornist jeden Ton haarscharf zu tief ansetzte, klang es wie eine Parodie.Vera musste sich das Lachen verbeißen.Als Vaters Blick den ihren kreuzte, nur für einen kurzen Moment, ehe er wieder ins Leere glitt, fühlte sie sich schuldig.Sie hätte auf ihn hören sollen, damals.Aber sie hatte seine Einwände beiseitegewischt und sich in den Kopf gesetzt, Isa bei der Verwirklichung ihres Traumes zu helfen.»Ich studiere auch in Innsbruck, dann ist Isa nicht allein«, schlug sie vor.Und Mutter, die Dritte im Bunde, argumentierte mit der großen Chance, die Isa nicht entgehen durfte.Natürlich gelang es ihnen spielend, Vater zu überstimmen.Allerdings zerschlug sich Veras Plan.Sie verpatzte den Eignungstest, der Voraussetzung war, um in Innsbruck zum Medizinstudium zugelassen zu werden.Ein Schutz der Österreicher vor dem Ansturm der Deutschen.Dafür erlaubte ihr der ausgezeichnete Notendurchschnitt beim Abitur, sich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu immatrikulieren.Vera versprach, an den Wochenenden für Isa da zu sein.Doch die kleine Schwester hatte sich rasch eingelebt, und Vera war selten nach Innsbruck gefahren.Viel zu selten.Die Wolkendecke riss auf, ein verirrter Sonnenstrahl durchbrach das geballte Grau und ließ das Waldhorn aufleuchten.Der Bläser, als wäre er darüber erschrocken, verfehlte den Schlusston der Choralmelodie, der als jämmerlicher Gickser in der Luft verzitterte.Nach dem Begräbnis hatten die Eltern sich hingelegt.Auf Zehenspitzen schlich Vera in Isas Zimmer, um ihr Tagebuch zu suchen
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